Street Art im Spannungsfeld zwischen Widerstand und kommerzieller Aneignung

Anna Mirjam Liley hat sich in ihrem Beitrag „Diese Wand bleibt bunt – Lokale Identifikation über Street-Art“ für das Buch „Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze“, herausgegeben von Ursula Kirschner und Anja Saretzki, erschienen 2023 bei Transcript, mit der lokalen Identifikation über Street Art auseinandergesetzt.
Das Hamburger Schanzenviertel befindet sich aktuell in einem starken Veränderungsprozess. Projekte, die eher der alternativen Szene zuzurechnen sind, werden verdrängt durch eine zunehmende Kommerzialisierung. Durch das Viertel rollt eine Aufwertungswelle: Ein Weltkriegs-II-Bunker wurde die Aufstockung mit einem Hotel und einer Aussichtsplattform zu einem Tourismus-Magneten. Nicht weit entfernt davon musste ein historischer Gebäudekomplex einem Büro-Neubau weichen, der imagekonform von den Investoren als St.-Pauli-Haus bezeichnet wird.

KP Flügel befragte Anna Mirjam Liley zu ihrer Sicht der Dinge. Die Autorin wird am Freitag, 2. Mai 2025 an der Art-and-Place-Diskussion zum Thema Gentrifizierung teilnehmen.

Welche Rolle spielt Street Art in diesem Prozess?

Die lokale Street Art existiert mittlerweile in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Widerstand und kommerzieller Aneignung. Das Beispiel des angesprochen Bauprojektes zeigt exemplarisch eine Möglichkeit auf, wie Street Art ungewollt auch mit zu Verdrängungsprozessen beitragen kann: Bedingt durch verschiedene Entwicklungen, wie beispielsweise der zunehmenden Bedeutung sozialer Medien als Informationskanäle, wächst das Interesse an einem „New Urban Tourism“ – also einer als besonders authentisch wahrgenommen Reiseerfahrung abseits des Mainstream-Sightseeings. Im Zuge dessen werden auch Elemente alternativer Kultur immer mehr zu großstädtischen Standortfaktoren. Auch die Street Art, die das Stadtbild der Hamburger Schanzenviertel prägt, kann mittlerweile als ein solcher Faktor betrachtet werden. Das kreative und subversive Image macht die Umgebung für Investor*Innen besonders attraktiv, wodurch es zu einer Instrumentalisierung alternativer Kultur zu Marketingzwecken und zur Inanspruchnahme städtischer Räume im Sinne einer Kommerzialisierung kommt. Da sich aber nur bestimmte und erwünschte Aspekte alternativer Kultur in diesem Kontext einbringen lassen, zieht der Prozess unweigerlich eine Verdrängung nach sich, die im Hinblick auf Street Art zum Beispiel anhand verstärkter Repressionen und vermehrtem Fassadenschutz durch Gitter etc. sichtbar wird. Letztlich ist und bleibt das Phänomen Street Art jedoch eine ungefragte Aneignung öffentlicher Räume, die sich auch von solchen Maßnahmen nicht aufhalten lässt. Damit stellt es trotz der eigenen kommerziellen Vereinnahmung weiterhin eine Form der (Rück)Eroberung städtischer Räume dar und verhandelt immer wieder neu über das Recht auf diese.

Wie bist Du bei der Untersuchung/Recherche vorgegangen?   

Ein Teil meiner Recherche bestand daraus, Personen zu befragen, deren eigene Street Art im Viertel vertreten ist oder die auf andere Art und Weise in der Szene aktiv sind. Im Rahmen weiterer Interviews habe ich zudem auch mit Anwohnenden, Gewerbetreibenden sowie mit Reisenden im Viertel gesprochen, um unterschiedliche Perspektiven auf das Thema einzufangen. Diese habe ich im Ergebnis letztlich auch erhalten, denn es kommen hier schon sehr unterschiedliche Interessen und Intentionen zusammen.

 

In Deinem Beitrag stellst Du Street-ArtistInnen die Frage, ob Street Art immer einen politischen, aktivistischen Bezug haben müsse? Diese Frage aufgreifend und erweiternd: Welche Rolle spielt heute in der Schanze die Street-Art- bzw. Graffiti-Szene?

Wie schon angesprochen, beinhaltet Street Art ja bereits durch den Akt der ungefragten Aneignung öffentlicher Räume eine aktivistische Dimension und verfügt damit immer auch über ein gewisses subversives Potenzial. Inhaltlich geht es allerdings nicht zwangsläufig darum, mit den Motiven eine gesellschaftskritische Message zu transportieren. Mein aktueller Eindruck ist, dass die lokale Street Art innerhalb der letzten Jahre tendenziell politischer geworden ist. Letztlich lassen sich dazu aber keine allgemeingültigen Aussagen treffen, da die Motivationen, die hinter der Gestaltung und Verbreitung von Street Art stecken, alles in allem sehr divers sind. Viele Urheber*Innen betonen zum Beispiel, dass es ihnen in erster Linie um die Freude an der Gestaltung des öffentlichen Raumes geht. Sie möchten teilweise auch einfach Interventionen und kleine Irritationen im Alltag kreieren, die Menschen dann für einen kurzen Moment visuell erfreut. Häufig liegt der Reiz zudem im Verbotenen oder einfach darin, eine möglichst große Sichtbarkeit zu erreichen.

Ein für mich sehr interessanter Aspekt ist, dass – ganz unabhängig von den Intentionen der Urheber*Innen – über die kreative Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum etwas entstehen kann, was sich als ein Gefühl lokaler Zugehörigkeit beschreiben lässt. Zum Beispiel dann, wenn Street Art innerhalb einer ortsgebundenen Community ausgeübt wird oder wenn sie nach der Anbringung fotografiert, auf dem eigenem Instagram-Kanal veröffentlicht und geografisch getaggt wird. Auch die Betrachter*Innen identifizieren sich scheinbar über die lokale Street Art mit dem Ort „Sternschanze“. So wird zum Beispiel häufig von Street Art als Bestandteil einer ganz bestimmten Atmosphäre gesprochen, die als prägend und typisch für den Stadtteil wahrgenommen und geschätzt wird. Zudem können natürlich auch mit der Street Art assoziierte Konsumerlebnisse eine lokale Identifikation bewirken. Es wird also über ganz vielfältige Auseinandersetzungen mit der Subkultur eine ortsbezogene Bindung hergestellt.

Fotos: Anna Mirjam Liley

„Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze“, hrsg. von Ursula Kirschner und Anja Saretzki, erschienen 2023 bei Transcript.