
Studie zur Corona-Pandemie/ Auswertung
Strategien der Identitätssicherung von Kunst- und Kulturschaffenden in Zeiten der Corona-Pandemie.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf biografische Verläufe von Kunst und Kulturschaffenden? Fühlten sie sich in ihrer beruflichen und persönlichen Identität bedroht? Welche waren ihre individuellen Bewältigungsstrategien? Zu diesem Fragekomplex der Verarbeitungsstrategien haben die in Berlin ansässige Stiftung Wissensart und die Hamburger Quadriga gGmbH eine Studie erstellt.
Die Ergebnisse liegen jetzt vor.
Es war ein surreales Gefühl, wie wenn du im Hochsommer über Schnee gehst. Es war apokalyptisch, verängstigend und dennoch spannend.“[1]
Künstler*in-Sein unter den Bedingungen der „Coronabeschränkungen“ 2020-2022 / Interview-Studie von Quadriga und Stiftung Wissensart
Menschen, die sich entscheiden, ihr Leben als Künstler*in zu führen, fühlen sich berufen. Als folgten sie einem immer anwesenden und pulsierenden Urinstinkt, den zu verleugnen gegen ihre eigene Natur verstoßen würde. Es ist der Ruf nach Selbstausdruck der kreativen Energien nicht nur als Selbstzweck, sondern um bei anderen ein Echo zum Klingen zu bringen. Künstler*in zu sein ist ein identitätsschaffendes und -sicherndes Statement, das zwischen dem schaffenden Drang nach außen und der Rezeption durch die Welt oszilliert. In dieser Dynamik unterliegt ihre Identität in hohem Maße einer fragilen Balance.
Rückblende
In einer Reportage des Spiegel-TV vom Dezember 2021 performen 3 Profibackgroundtänzer im schwarz-rot-goldenen Lacklederdress auf Highheels durch den legendären Penny-Supermarkt auf Sankt Pauli. Seit Monaten sitzen sie in einem kleinen Hotelzimmer fest, alle Tourneetermine sind auf unbestimmte Zeit gestrichen. Sie halten sich mit Training fit – und nutzen die Zeit kurz vor der Schließung des Supermarktes um 22 Uhr, um einen kurzen Auftritt vor der maskenbewehrten Kundschaft hinzulegen.
Dieser kurze Filmausschnitt bildete u.a. die Grundlage für das Interview-Projekt von Quadriga gGmbH und Stiftung Wissensart,
das nach Beendigung aller Beschränkungen und Restriktionen ab Sommer 2022 begonnen wurde. KP Flügel (Stiftung Wissensart) und Dr. Thomas Augustin (Quadriga gGmbH) stellten Kulturschaffenden die Fragen: Wie haben Künstler*innen die Coronazeit über diese zwei Jahre erlebt? Wie hat sie sich auf ihre Identität ausgewirkt? Welche persönlichen Eigenschaften waren hilfreich, um die schwierige Situation des Wegfalls von Auftrittsmöglichkeiten, Ausstellungen, Veröffentlichungen usw. zu überstehen?
Im Zeitraum Sommer 2022 bis Frühjahr 2024 wurden mit insgesamt 15 Solo-Künstler*innen[2], die alle in unterschiedlichen Genres tätig sind, Gespräche geführt. Diese orientierten sich an einem standardisierten Leitfaden.
Zwischen Schockzustand und Entschleunigung – Reaktionen nach dem ersten Lockdown
Das dominierende Gefühl der Solo-Künstler*innen nach Verkündung des ersten Lockdowns war „Schock“. „Somit fiel mit dem Lockdown erstmal alles in sich zusammen. Der Grund, warum ich da war, meine Rechtfertigung vor mir selbst, für meine Existenz, war nicht mehr gegeben.“[3] Mit einem Schlag löste sich alle innere und äußere Sicherheit bei vielen Befragten auf. „Ich war völlig panisch und dachte jetzt, ja, jetzt lassen sie uns alle einfach hängen.“[4] Der Schockzustand über die individuelle Situation wurde durch die Erkenntnis der kollektiven Arbeitslosigkeit aller Gleichgesinnten noch erweitert und verstärkt. „Was mich noch mehr geschockt hat als meine eigene Situation, war im Endeffekt auch der Schock mitzubekommen, dass mein gesamter Freundeskreis, der aus Kunstschaffenden u.a. aus Regie, Goldschmiedekunst usw. besteht, plötzlich arbeitslos war.“[5]
Manche der befragten Künstler*innen erlebten diese Zeit auch als persönliche Krise, die tiefgreifende Verzweiflung und Not auslöste. Das Fehlen von Freiheit, Autonomie und Auseinandersetzung mit Anderen – die Eckpfeiler künstlerischer Identität – waren prägend.
„Also, dadurch, dass ich kein Freiheitsgefühl mehr empfunden habe, fühlte ich mich sehr eingeengt und meine Selbstbestimmung war auch teilweise sozusagen dahin. Ja, das hat mich schon schweren innerlichen Krisen ausgesetzt, wobei die existentielle nicht die allerschlimmste war. Weil ich mich als Künstlerin eigentlich kaum auseinandersetzen konnte, irgendwo und mit irgendwem.“[6]
Neben dem Schockzustand berichteten die Künstler*innen aber auch – sofern sie nicht akuten ökonomischen Verwerfungen ausgesetzt waren – von einem Erleben der Entschleunigung. Anstrengende Reisen zu Aufführungen oder Lesungen fielen, von höherer Gewalt angeordnet, weg. Auf einmal gab es Freiräume für Entspannung, ein Zurücktreten aus dem Hamsterrad der Akquise und künstlerischen Auftragsarbeit war möglich. Dieses Ringen um Gelassenheit, um sich nicht von dem die eigene und äußere Welt bedrohenden Schockzustand beherrschen zu lassen, ermöglichte dann relativ schnell die Rückkehr zur Handlungsfähigkeit.
„Und dann habe ich mich hier erst mal anderthalb Wochen in den Lockdown begeben, in meinen persönlichen. Also ich habe mich isoliert. Dann habe ich gehört, ja, du kannst jetzt hier sitzen und in Panik geraten. Du kannst aber auch für Menschen Masken erstellen. Und tatsächlich, ich habe mir eine Nähmaschine gekauft.“ [7]
Ausnahmezustand als Normalität – wohin mit der Kreativität?
Je länger der Ausnahmezustand mit seinen Beschränkungen in sich immer wieder modifizierenden Formen anhielt, löste sich bei fast allen Befragten das Gefühl der Schockstarre, Aktivismus drängte nach vorn. Einige taten das, was sie immer tun. „Schreiben geht ja immer“[8].
„Und dann habe ich halt angefangen das zu machen, was ich immer gerne machen wollte. Ich habe dann frei gearbeitet, also künstlerisch und mein ganzes angewandtes Zeug. Davon sind jetzt die Schränke voll.“[9] Es wurde also einfach ohne Verwertungsauftrag oder- absicht produziert. Die Ideen und die kreativen Energien bahnten sich ihren Weg. Andere lernten die Verbreitung ihrer Kurse und Auftritte via ZOOM als digitale Plattform kennen und entwickelten entsprechende Formate. „Ich habe dann quasi für die Schüler Videos gedreht, um die Arbeiten zu erklären.“[10]
Nachdem ich mir Videotechnik und Streamingwissen angeeignet hatte, eröffnete sich mir darüber eine ganz neue Möglichkeit, Webinare und Auftritte mit meinen Puppen zu gestalten, ohne dass ich durch die halbe Republik fahren musste.“[11]
Hybride und digitale Vermittlungstechniken waren in der Zeit der Coronabeschränkungen oft die einzige Möglichkeit, die Zielgruppe der eigenen kreativen Arbeit zu erreichen. Das verlangte einigen Lernaufwand und auch Investitionen. Bei den meisten Befragten führte diese Form auch zunächst zu einer temporären Zufriedenheit. Aber: schon schnell wurde klar, dass der Austausch mit dem Gegenüber ohne sinnliche Begegnung wie bei Liveveranstaltungen nur sehr begrenzt befriedigend war.
„Und mir ist das schwer gefallen, weil ich will lieber wirklich mit der Gruppe arbeiten. Ich brauche dieses live erleben, den persönlichen Austausch und deswegen war das für mich eher nicht etwas, was mich sehr beflügelt hat.“[12]
Ich bin jemand, der braucht das Liveerlebnis und die Menschen. Online war eine Notlösung, aber für mich nicht dauerhaft das richtige Format.“[13]
Weitere Möglichkeiten, der Gefahr der lähmenden Passivität und der künstlerischen Einsamkeit zu entkommen, waren die Aneignung ganz neuer kreativer Felder (Synthesizer Musik), Bewerbung um Stipendien oder politisches Engagement.
„Dann bin ich in die LINKE eingetreten, um nicht mehr allein passiv den Frust zu haben und unzufrieden zu sein, sondern es zumindest versuchen, mitzumachen, etwas zu tun.“[14]
Letztlich habe alle befragten Künstler*innen trotz aller Sorgen und Zweifel während der Zeit der Corona-Maßnahmen nicht daran gedacht, ihre Existenz als Künstler*in aufzugeben. Sie haben z.T. ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten erweitert, sich noch andere Standbeine zur ökonomischen Absicherung organisiert oder ihre grundsätzliche Haltung zum Kulturbetrieb etwas modifiziert. Aber das grundsätzliche Selbstverständnis, getragen von der Hoffnung auf ein Ende der Beschränkungen, veränderte sich nicht.
Skills und Settings – Helfer in der Not
Fast alle Befragten berichteten, dass sie als Solo-Selbständige sowieso immer in sowohl ökonomisch als auch strukturell prekären Umständen leben würden. Deshalb würden sie Mut, eine gewisse „Leidensfähigkeit“ und Schnelligkeit zur Anpassung an sich verändernde Verhältnisse mitbringen. Es ist vor allem die schnelle Zurückgewinnung von Handlungs-autonomie, die es ihnen ermöglichte – nach Überwindung des ersten Schockmoments – die Situation für sich als Künstler*in pragmatisch zu gestalten.
„Und in der Fiktion wie im Leben gilt: Solange man handelt, ist immer auch ein Happy End möglich.“[15]
Auf einmal wurde festgestellt, dass auch alle anderen Menschen, die in geregelten und abgesicherten Verhältnissen lebten, dasselbe Problem hatten. Aus dieser Erkenntnis resultierte Verbundenheit und löste das Gefühl der Einsamkeit, dass Solo-Selbständige oft begleitet, etwas auf. Toleranz, Disziplin, gegenseitige Rücksichtnahme und Fürsorge traten in den Vordergrund, um die Auswirkungen der Krise zu bewältigen.
Besonders hilfreich wurde die Einbindung in soziale Kontexte empfunden. Die Unterstützung durch Familie und Freunde – ökonomisch und persönlich – war ein wichtiger Stützpfeiler.
Neugier und Lebensfreude wurde ebenfalls als persönliche Skills genannt, um aus den „düsteren Sackgassen“[16] schneller herauszufinden. Introspektion und Ausdruck, Krise als künstlerische Chance zu nutzen war vor allem für Schauspieler*innen eine Option.
Mir persönlich hat diese Pandemie auch gezeigt, dass, egal, was ist, wir niemals aufhören dürfen, sinnliche, ästhetische und kulturelle Erlebnisse für Menschen zu gestalten. Wir brauchen Orte des Zusammenkommens, des unvoreingenommenen Begegnens, um Verständnis füreinander und gelebte Demokratie zu fördern.“[17]
Fazit:
Die interviewten 15 Solo-Künstler*innen stehen mit ihren biografischen Erfahrungen aus diesen 2 Jahren eines gesellschaftlichen und persönlichen Ausnahmezustandes für sich.
Wir wollten gerade diesen individuellen Erlebnissen und Verarbeitungsstrategien nachspüren und ihnen mit diesem Projekt eine Stimme geben. Inzwischen sind zwar die Konzerthallen mit Top-Acts wieder gefüllt, aber die Solo-Künstler*innen beklagen, dass nach der Krise einige Formate einfach nicht wieder angelaufen sind. So haben die kleineren und mittleren Veranstaltungen immer noch eine bedrohliche Durststrecke durchzustehen. Das große politische Bekenntnis „Wir lassen niemanden allein“ ist inzwischen verhallt. Die Wertschätzung der Kulturschaffenden als wichtige Säulen des gesellschaftlichen Zusammenhalts findet kaum eine politische Lobby. Neue große Krisen überdecken die Ausläufer und Verwerfungen der Corona-Beschränkungen, denen die Solo-Künstler*innen nach wie vor ausgesetzt sind.
Auf jeden Fall kann für die Teilnehmer*innen unseres Projekts festgestellt werden, dass die jeweilige Identifizierung mit dem Künstler*innen-Sein und die individuellen Bewältigungskompetenzen ausreichten, um die Krise zu überstehen.
[1] Schauspieler
[2] Im Folgenden sind die Zitate aus den Interviews alle anonymisiert.
[3] Kunstagentin
[4] Textildesignerin
[5] Schriftsteller
[6] Sängerin
[7] Lichtkünstlerin
[8] Schriftsteller
[9] Textildesignerin
[10] Malerin, Kunstlehrerin
[11] Puppenspieler
[12] Tänzerin, Ballettstudio
[13] Sängerin
[14] Kostümbildnerin
[15] Schriftsteller
[16] Tänzerin, Ballettstudio
[17] Kunstagentin