Ulrich Blanché, Kurator der Ausstellung „Illegal. Street Art Graffiti 1960-95“: „Mich interessieren besonders Arbeiten, die nur illegal auf der Straße funktionieren…“

Die Ausstellung „Illegal. Street Art Graffiti 1960-1995“ setzt, so schreibst Du in Deinem Katalog-Essay, „an dem historischen Punkt an, wo illegale Graffiti und Street Art im heutigen Sinne sich formierten – nicht mehr als anonyme „Volkskunst“ oder als Authentizitätsspender irgendwo in Hintergrund, sondern als selbstautorisierter Gegenentwurf von konkreten Individuen oder Künstler*innen-Gruppen zur Mainstream-Kunst, zur kuratierten Kunst der Institutionen Museum, Galerie und Kunstmarkt. Zunächst von der Straße in den Galerieraum getragen, wurde Proto-Graffiti und -Street Art ab 1960 selbst illegal im urbanen Raum geschaffen.“

Da stellt sich für mich erst einmal die Frage, wie lässt sich beurteilen, welche Street Art Graffit illegal angebracht worden sind?

Ob ein Werk tatsächlich illegal angebracht wurde, lässt sich je nach Einzelfall unterschiedlich eruieren. Beim Sprayer von Zürich zeigen wir tatsächlich original Polizeifotos. Teils müssen wir uns aber auf Erzählungen der Künstler verlassen oder auf zeitgenössische Berichte. Ein frühes Christo/Jeanne Claude-Werk etwa war legal geplant, aber die Genehmigungen wurden nicht erteilt, woraufhin das Werk illegal durchgeführt wurde. Darüber gibt es Unterlagen. Bei Graffiti-Tags oder Sprühschablonen ist auch über Form und Größe, zeitlichen Kontext etc. keine legale Fassung denkbar. Grenzfälle sind Werke, wie eine Mauer von Walter Dahn mit George Condo in München, die in der Literatur oft als illegales Graffiti auftaucht. Im Interview mit Dahn sagte er mir aber, dass es legal an einer Galerie-Außenmauer gemacht wurde. Wenn das für Passanten aber nicht über die Form klar wird, sehen die Graffiti, obwohl da legale Kunst ist.

Warum das Zeitfenster 1960-95?

Ich habe mal gelesen, viele Kunst wird geschaffen, um das vorherige zu kommentieren, in Frage zu stellen. Das gilt analog auch für diese Ausstellung. Wenn man die Tate-Ausstellung „Street Art: The Graffiti Revolution“ ansieht oder die „Beyond the Street“ Blockbuster-Ausstellungsreihe, setzen die vom Schwerpunkt her immer später an. Warum? Weil sie Street Art oft als Folge von US-Graffiti sehen, nicht als paralleles, lange unabhängiges Phänomen. Ziel war hier, die Kausalitäten etwas aufzubrechen. Nur weil Alex Vallauri, Guglielmo Cavellini oder Jerzy Trelinski heute in kaum einer Street-Art-Übersicht vorkommen, heißt das nicht, dass sie zu ihrer Zeit keine illegale Street Art gemacht haben, die aber völlig unabhängig von US Style-Writing-Graffiti entstand. Und mit Brassais ersten Graffiti-fotos 1933 anzufangen, hieße das „Ausnahmen bestätigen die Regel“-Gebot wieder nachzukauen. Daher begann ich um 1960, als Brassai erste Mainstream-Publikationen und Ausstellungen hatte. Der Zeitraum endet 1995, vor dem Internet als Massenphänomen, vor der zweiten Street-Art-Welle, die durchs Internet und durch Photoshop etc. befeuert wurde. Man kann auch sagen: vor Banksy, dessen Erstling ein Abschluss unserer Schau bildet.

Was verstehst Du als selbstautorisierten Gegenentwurf zur Mainstream-Kunst? Mit dem reflektiert-kuratorischen Blick von heute, was ist aus dem selbstautorisierten Gegenentwurf der damaligen Zeit geworden, ist er oftmals nicht zum Mainstream von heute geworden bzw. in eben diesem gelandet?

Das ist eine große Frage. Wie die gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen von 1968 irgendwie doch alles änderten, machte das auch die Bestrebungen der Hochkunst, also Land Art, Video Art, Performance Art, teils konzeptuelle Kunst. All das was nicht Malerei ist, nicht oder nur schwer übers Sofa zu hängen ist, zu Geld zu machen ist – und dazu gehört auch Street Art, da sie oft von klassisch ausgebildeten Künstler*innen geschaffen wurde. Auch im Style-Writing-Graffiti wurde spätestens mit der Hochphase der Whole Cars [vollständig außen vielfarbig und virtuos bemalte U-Bahn Waggons] so oft Graffiti als Kunst diskutiert – sowohl als „Das ist auch Kunst!“ als auch als „Das ist die neue Kunst!“, „Das ist die bessere Kunst!“.

Für andere illegale Protagonistinnen hat der Kunstaspekt keine so große Rolle gespielt. Und die Mainstreamkunst ist für die quantitative Mehrzahl aller, die sich als Künstler*innen verstehen, auch problematisch. Der Blick von heute sagt, dass man alles kommodifizieren, zu Geld machen kann, will sagen: zu Kunst, die man verkaufen kann, auch die selbstautorisierten Gegenentwürfe der damaligen Zeit. Verändert hat sich schon, dass man heute auch illegalen Arbeiten Wert zuschreibt, finanziellen und ideellen. Mich interessieren besonders Arbeiten, die nur illegal auf der Straße funktionieren, thematisch oder aus der gesellschaftlichen, politischen Situation heraus oder der persönlichen des Künstlers. Wenn der Künstler, die Künstlerin eine andere Idee hat, die auch legal funktioniert, muss sie nicht illegal ausgeführt werden.

Die Fragen stellte KP Flügel